Aufmerksamkeit erregt - zu den Arbeiten von Christine Aries
Mit offenen Augen, immer in Bewegung und die Kamera griffbereit, reist Christine Aries. Erregt etwas ihre Aufmerksamkeit, betätigt sie den Auslöser - das fotografische Bild ist entstanden und erweitert ihren grossen Fundus an Aufnahmen um neue Gestaltungsmöglichkeiten. Was diese Worte so simpel beschreiben, ist tatsächlich ein komplexer Prozess von Konzentration, Wahrnehmung und künstlerischer Arbeit. Hier im Vebikus stellt sie ihre neuen Arbeiten aus, deren Basismaterial von Reisen nach Berlin und Tokyo stammt.
Doch was erregt ihre Aufmerksamkeit, was kann „ihr“ Bild werden, das sie später am Bildschirm verändert und drucktechnisch selbst fertigt? Fotografieren ist auch ein Auswahlverfahren. Besonders aus der Bewegung heraus, muss das Gesehene eine hohe Dichte und Komplexität aufweisen, um Interesse zu gewinnen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Es sind keine gestellten Aufnahmen, sondern schnelle Bilder, daher überrascht es nicht, wenn sie sagt, sie sei „oft zu spät“. Immer wieder finden sich elementare Strukturen und Elemente, unabhängig davon, wo sie sich gerade befindet, wenn sie die Aufnahme macht. Als ob sie einen Moment der Realität auf diese elementaren Strukturen abschält - immer mit dem Blick für das Unerwartete, Überraschende.
Hier hört sie noch lange nicht auf: Sie stellt diesen Moment, der ihre Aufmerksamkeit weckt, im fotografischen Bild still, um ihn/es dann weiterzuführen und zu öffnen. Im urbanen Raum interessieren sie beispielsweise Architekturen und Räume, die zwischen Bauten entstehen, oder auch das Zusammenspiel von Strukturen, Flächen, Farben, wie auch die möglichen Räume oder Erzählungen, die in ihnen stecken. Am Bildschirm, in der mehr oder weniger umfangreichen digitalen Bearbeitung, präpariert Christine Aries diese Momente, bricht formale Strukturen, ergänzt Farben, vervielfacht den Ansatz einer Erzählung z.B. mittels Zeichnungen, verlängert spannende Kombinationen, variiert Muster oder erfindet etwas ganz Neues. In der Serie „Spielbank“ entstehen ausgehend von einer realen Architektur an einem spezifischen Ort geradezu irreale Räume, deren Koordinaten buchstäblich verrückt sind. Die tatsächlich vorhandenen Elemente wie Fassaden, Passagen, Passanten gehen über in eine Fiktion von Formen, losgelöst vom Ort und daher offen für neue Inhalte. In Arbeiten wie „Sorry, Mr. Newman 1-4“ verblüfft der Kontrast zwischen der gehenden Frau, eigentlich nur ein Schatten, und der beinahe unwirklichen, aber massiven Skulptur von Barnett Newman. Beinahe elegisch denkt man über den einzelnen Menschen auf dem Balkon unterhalb der verwaisten Werbefläche nach, in einer Stadt, die für ihre Menschendichte bekannt ist (Tokyo). Oder Augustus Hospital - die tatsächliche, marode und daher wunderbar pittoreske Architektur setzt sich natürlich fort und die Grenze zwischen Architektur und Natur verschwimmt. Auch der zeitliche Index kann doppelt gelesen werden: Architektur, die sich im Zuge des Verfalls wieder in Natur umformt, oder Natur, die sich graduell in Architektur verwandelt. Unmöglich, sich zu entscheiden. Aber durchaus möglich, noch anderes zu denken.
Aufmerksamkeit zu erregen, ist heute ein schwieriges Geschäft, wie Werbefachleute zweifellos bestätigen würden. Durch die ständige mediale Übersättigung ist die Wahrnehmung ermüdet, und die Strategien, Aufmerksamkeit auf ein Produkt zu lenken und in Konsum zu überführen, sind ungezählt. Auf erfrischende Weise bieten die Arbeiten von Christine Aries ein Gegenmodell: Sie beweisen, dass Aufmerksamkeit eine produktive Grösse ist und nicht passiv in Konsum kollabieren muss. Aus dem Überfluss an verschiedenartigen Reizen, denen man täglich mit hoher Geschwindigkeit ausgesetzt ist, selektiert der sensible Blick der Künstlerin etwas für die Betrachter. Dadurch, dass sie dem Aufmerksamkeit schenkt, es dem Blick präsentiert, aber gleichzeitig so befreit, dass es sich in alle Richtungen entwickeln kann, kann es wahrgenommen und kreativ bedeutsam werden - eben nicht vorgefertigt, abgeschlossen/fertig oder leicht zu konsumieren.
Nadin Scheu, Kunstwissenschaftlerin